Reportage: Eine besondere Reise
Von Florian Machnow
Aufgeregt starte ich den Motor und gebe das Ziel ins Handy ein: Cuxhaven an der Nordsee, knapp 500 Kilometer. Der speckige Schaltknauf rastet im ersten Gang ein. Wir rollen los. Auf diesen Moment habe ich anderthalb Jahre gewartet – das halbe Leben meiner Tochter Emma*.
Neidisch schaute ich in den letzten Monaten auf die Besitzer von Kleingärten oder Ferienhäusern. Selber fühlte ich mich gefangen in Berlin-Kreuzberg: Seit anderthalb Jahren pendelt unsere heute dreijährige Tochter zwischen der Mutter und mir. Fast genauso lange schlagen wir uns, wie alle anderen auch, mit dieser scheiß Pandemie rum.
Der erste Schritt zur Freiheit ist ein Auto zu kaufen. Mein letztes hatte ich gehasst, in Berlin ergeben Autos keinen Sinn. „Die Situation ist jetzt anders“, rechtfertige ich die Entscheidung vor mir selbst. Es ist ein alter Kombi ohne Schnickschnack. Meine beste Freundin sagt es sei ein Daddy-Car. Mit meinen 32 Jahren fühle ich mich zwar nicht wie ein Daddy-Car-Besitzer, andererseits schlägt mir mein Handy auch Dad-Rock-Playlisten vor. Ich muss schmunzeln.
Nachdem ich das Auto abgemeldet, kurzzeit-angemeldet, bezahlt, abgeholt, versteckt und wieder angemeldet habe, stelle ich mir die Frage: Wo könnten wir hinfahren? Ausland kommt dank Corona nicht in Frage und in Deutschland gibt es keine Übernachtungsmöglichkeiten. Nicht einmal Campingplätze sind geöffnet - wild campen zu heikel. Ich erinnere mich an meinen fast verschollenen Onkel Harald*, einen ehemaligen Seemann mit großem Haus an der Nordsee. Nach unzähligen Anrufversuchen erreiche ich ihn - er freut sich über Besuch.
Nach der ersten Freude kommen die Zweifel: Meine Tochter ist drei Jahre alt und ich war noch nie mit ihr alleine im Urlaub. Wird Emma die Mutter stark vermissen? Vergesse ich etwas und wir müssen abbrechen? Am Ende geht es immer um die eine Frage: Bin ich als Vater genug?
Für mich alleine packe ich normalerweise in der Nacht vor Abfahrt. Doch dieses Mal gehe ich auf Nummer sicher und beginne schon am Nachmittag, zunächst mit Emmas Sachen. Nur um später in jeden meiner Koffer und Beutel weitere Ersatzhosen und Oberteile für sie zu stopfen. Am Ende hat sie neun Hosen - für vier Nächte. Auch den Kindersitz befestige ich erstmals mit der ominösen Isofix-Halterung. Macht laut Anleitung keinen Unterschied zur Gurthalterung, aber ich verlasse abends das Auto mit dem Gefühl, alles was möglich ist gemacht zu haben.
Am nächsten Morgen stopfe ich die letzten Sachen in den überfüllten Kofferraum: Kinderfahrrad, Skateboard, Roller und fünf Reistaschen. Nach drei Versuchen ist die Kofferraumklappe geschlossen. Emma bei der Mutter einsammeln, Arbeit erledigen und dann ist der Moment gekommen!
Noch bevor wir Berlin verlassen, hat Emma keine Lust mehr: „Wie lange fahren wir noch?“. Meine Zweifel kommen zurück, doch ich lasse mir nichts anmerken. Stattdessen erkläre ich, dass wir erst im Dunkeln ankommen. Wirklich beruhigt ist sie nicht.
Beim Wannsee geht es auf die Autobahn und wir beschleunigen auf Reisegeschwindigkeit - gemütlich, Daddy-car. Aber es fühlt sich dennoch an als würden wir Pferde stehlen. Paradise City von Guns N‘ Roses dröhnt aus den Lautsprechern, ich fange an zu lächeln: Trotz aller Widerstände haben wir es geschafft!
Auf einmal regnet es so viel, dass jedes Auto in seinem eigenen Sprühnebel zwischen Straße und Himmel verschwindet. Emma findet das spannend und beobachtet das Wasser auf den Autos, der Autobahn, den Fenstern - überall. So rollen wir gemächlich durch das Wasser.
Normalerweise schläft Emma schon seit zwei Stunden. Stattdessen lässt sie sich von einem elektronischen Stift ein Buch vorlesen. Ich höre sie immer wieder singen: „Wasser, Wasser Wasser, wir werden immer nasser.“ Eine Dauerschleife aus Wasser, draußen wie drinnen. Mit Stift und Buch in der Hand schläft sie irgendwann ein. Noch im Schlaf brabbelt sie weiter: „Wasser Wasser Wasser“. Ich friemel die Sachen aus ihrer Hand und cruise weiter durch den Regen, etwas stolz.
Das Wetter verändert sich schlagartig. Die Wälder weichen dem niedersächsischen Marschland. Silhouetten der Windräder zeichnen sich gegen einen rosa-pinken Himmel ab. Die Farben werden immer kitschiger und ich bin fasziniert welche Rottöne der noch eben völlig bedeckte Himmel annimmt.
Vor der letzten Kurve zum Haus meines Onkels höre ich Emma von hinten brubbeln, dass wir da sein müssen, schließlich sei es dunkel. Ganz Unrecht hat sie nicht, doch ich hatte mit Mitternacht und Sternenhimmel gerechnet. Am wolkenlosen Himmel sind keine Sterne zu sehen, denn viel früher als erwartet halten wir vor dem Haus meines Onkels. Die letzten Sonnenstrahlen verabschieden den Tag. Es lief reibungslos.
Morgen ist Vatertag.
*Name geändert